Montag, 14. September 2015

Familiengeschichte

Ich sehe die Gesichter der Flüchtlinge heute… 
Und ich erinnere mich an meine Omi… 

 Meine verstorbene Großmutter stammt aus Ostpreußen. Sie wohnte in Kaliningrad, dem damaligen Königsberg. Dort lernte sie ihren Mann, meinen zu zeitig verstorbenen Opa, kennen und lieben. 
Sie heirateten im Krieg. Mein Opa diente damals bereits an der Front. 
Später, Anfang März 1944, wurde meine Mutti geboren. 

 Als ich klein war, erzählte mir Omi ab und zu aus ihrem Leben, der dann folgenden Kriegszeit, der Flucht, dem Anfang in Sachsen. Ich fand es interessant. Doch wirklich verstanden, was das für sie bedeutete, habe ich erst später. 

Mit 25, 30 Jahren, wollte ich meine Omi interviewen und alles aufschreiben, was sie noch wusste, es in ein Buch für die Familie packen. Denn die Generation, die den Krieg, die Flucht, erlebt hat, starb aus und schließlich gehört ihre Lebensgeschichte auch zu meiner Lebensgeschichte. 
Ich fragte sie, ob sie sich darauf einlassen würden, dass ich Ihr Fragen stelle. Viele Fragen. 
Ihre Antwort habe ich noch heute im Ohr: „Liebe Anneke. Ich möchte darüber nicht mehr reden. Immer wenn ich an die Zeit denke, kann ich nächtelang nicht schlafen, weil es mich zu sehr aufwühlt.“ 

 Ich habe meine Mutti gefragt, was sie noch weiß von damals. Doch statt ihre Angaben in meinen Text einfließen zu lassen, übernehme ich ihren Text in diesen Post. (Ich füge in Klammen und in Schrägschrift lediglich Erklärungen ein.) 

„Hallo Anneke, hier einiges aus meinen jüngsten Kindertagen an das ich mich noch bruchstückweise erinnere oder es noch aus den Erzählungen meiner Mutti (meiner Omi) weiß. 
Letzter Heimaturlaub von Vati (mein Opa) war meine Taufe Ende März 1944. Wiedergesehen hat er mich erst im März 1948, als er aus Gefangenschaft kam. 

Wir (Mutti und ich) wurden fünf Tage nach meiner Geburt aus Königsberg nach Rauschen, einem Urlaubsort an der Ostsee, gefahren. Beim Start dorthin, mein erster Flugversuch - Mutti bekam mich hinterher geworfen bevor das Auto abfuhr. Diese Reise bzw. diese Flucht hatte die Klinik organisiert (vom 21.03. bis 30. 03.1944). 
Danach ging es zurück nach Königsberg. 

Nach zwei großen Bombenangriffen (im August 1944) auf die Stadt hieß es - alle Frauen mit kleinen Kindern müssen die Stadt verlassen. 
Sammelpunkt war der Bahnhof. 
Ein ganzer Zug nur Frauen und Kinder. 
Die Fahrt dauerte ca. eine Woche, mit Unterbrechungen. Alle raus aus dem Zug - Bombenangriff - Leute in die Gräben neben dem Zug, bis der Angriff oder die Flugzeuge vorbei waren. 
Manchmal war auch längerer Halt, denn es fuhren ja auch noch Züge an die Front, die hatten Vorfahrt. Also versuchten die Frauen für ihre Kinder Milch von den Bauern an der Bahnstrecke zu bekommen, manchmal klappte es. 

Viel hat Mutti nicht davon erzählt, aber es muss schlimm gewesen sein, denn sie regte sich immer noch auf. 

Der Zug fuhr von Königsberg nach H. in Sachsen. 
Dort wurde er am 13.09.1944 quasi "ausgeschüttet". Alle raus aus dem Zug und aufstellen vor dem Bahnhof. Dann kamen die Abgeordneten der einzelnen Gemeinden und Orten und stellen ihre Forderung zum Beispiel: ‚Die Familie V. aus G. nimmt eine Frau und ein Kind mit eigener Bettwäsche auf.‘ Das verstand Mutti und meldete sich. Sie durfte raustreten und das Gezerre um weitere Plätze ging weiter.
Wer nicht ausgewählt wurde, der wurde am Ende einfach auf einen Ort eingeteilt. Ich weiß nicht wie viele es waren, aber G. bekam bestimmt 20 Frauen mit Kindern, vielfach drei bis vier Kinder pro Frau (Wie viele Menschen damals in G. lebten, wissen wir nicht.). Die mussten dann die Gemeinden unterbringen, aber frag nicht wie und wo, zwischen Ziegenstall, Pfarrhaus und Schuppen war alles dabei. 

Mutti und ich haben beim Zahnarzt zwei Zimmer unterm Dach bekommen. Der reine Luxus. Eine Küche und ein Schlafzimmer mit Kinderbett, möbliert, zwar schräges Dach, aber unseres. Dort wohnten erst wir Zwei, dann kam kurz vor Ende des Krieges noch Urahne (meine Urgroßmutter) und H. (der kleinere Bruder meiner Omi) dazu, dann nach Ende des Krieges noch Opa K. (der Mann meiner Urgroßmutter). Die sind dann aber umgezogen, denn im März 1948 kam Vati zurück - dünn und ohne Haare, ein vollkommen fremder Mann - wenigstens für mich, denn ich war ja nun schon vier Jahre alt. 

Da Mutti nur neun Mark im Monat hatte und an Vatis Sparbuch nicht herankam - zur Auszahlung brauchte sie nämlich Vatis Unterschrift, der war aber in Gefangenschaft -> also kein Geld (die Deutschen hatten schon immer sehr seltsame Gesetze) - hat sie beim Zahnarzt geputzt. Praxis und Haus. 
Geschenke von anderen hat sie auch nicht so gerne genommen, sie wollte keine Bettlerin sein, lieber wollte sie selbst arbeiten. Also war das Saubermachen das kleinere Übel. 

Schlimmer war, sie verstand die Sprache, das Sächsische nicht, wie eine Ausländerin. Sie hat mich, als ich größer war, als Übersetzerin genommen. 

Also bis auf das Mutti im Gegensatz zu mir öfters hungern musste ging es uns im Großen und Ganzen noch ganz gut wenn man sich die anderen Umsiedler ansah. 

Eine Wohnung haben wir 1950 bekommen denn wir waren ja jetzt vier Personen. 1949 hatte ich eine Schwester bekommen. G., Straße Nr. 4 - fast ein ganzes Leben, bis das Haus weggerissen wurde. 

Mutti hat 1944 allerhand Sachen eingepackt. Ein Radio, Federbetten, Anziehsachen, Geschirr (von der Hochzeit), auf jeden Fall zwei riesige Reisekörbe aus Rattan, etliche riesige Bündel (Federbetten), Bettwäsche und eine Kochkiste aus Holz. Es war ein ganz schön großer Haufen. Das wurde am Abreisetag in Königsberg mit auf den Bahnhof gebracht und verladen. Es musste die ganze Familie mit tragen helfen. Alles wurde auf die Reise in den Westen geschickt. 

Wie lange wir schon in G. waren -14 Tage oder vier Wochen- das weiß ich nicht, auf jeden Fall sah Mutti eines Tages aus dem Fenster auf die Hauptstraße, da stand ein großer Berg - Reisekörbe, Kleiderpungel, wie aus dem Nichts. Muttis Sachen waren angekommen, per Zug und von H. mit der Straßenbahn. Frage nicht woher die Sachen wussten, dass sie nach G., Straße Nr. 3 mussten, es war ja noch Krieg, die Welt kurz vor dem Untergang, aber die Sachen waren da (ob das mit der deutschen Ordnung und Gründlichkeit zusammenhing, wissen wir nicht). Problem gelöst. 
Viele dieser Sachen wurden von Mutti später in Essen umgetauscht - die Einheimischen mit Geld und die Bauern nahmen alles.“ 

Warum ich das hier in den Blog schreibe? 
Weil ich immer wieder daran denken muss, dass die Flüchtlinge das in ihrer Heimat und unterwegs Erlebte ein Leben lang begleiten wird. Wie meine Omi und meinen Opa. 

Anneke

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